Daan Remmerts de Vries (1962) ist ein ungemein produktiver (über 60 Bücher sind von ihm erschienen) und vielseitiger Autor, der 2021 den wichtigen und mit 60.000 euro dotierten Theo Thijssenprijs erhielt, ein Oeuvrepreis für Kinder- und Jugendliteratur. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auch in deutscher Sprache sind viele seiner Bücher bereits erschienen, u.a. bei Gerstenberg. Aber ein Kinderbuch aus dem Jahre 2003, wieso ist das ein Tipp? Ganz einfach: Godje ist immer noch ein schlichtweg großartiges Buch, für das sich seinerzeit aus mir unerklärlichen Gründen kein deutscher Verlag interessiert hat. Godje wurde mit dem Gouden Griffel ausgezeichnet. Offensichtlich ist der niederländische Querido-Verlag ganz meiner Meinung: 2021 wurde das Buch neu aufgelegt. Hier finden Sie Infos auf Englisch: http://www.letterenfonds.nl/nl/boek/389/godje
G U T A C H T E N
Daan Remmerts de Vries: Godje (Kleiner Gott), Querido 2003
87 Seiten in 27 Kapiteln, ab 10 Jahren
Inhalt
Robbie Nathan ist ein Bestimmer. Japos, Klaver, Bachmann und Simon, die vier Jungen, mit denen er oft zusammen ist, müssen gnadenlos nach seiner Pfeife tanzen. Von Japos, dem schwächsten der vier, lässt sich Robbie sogar mit „ Boss“ und „Bwana“ ansprechen, während er ihn seinerseits „Tier“ und „Sklave“ nennt. Simon hat als einziger keinen Spitznamen. Robbie betrachtet ihn mit anderen Augen als die anderen Jungen. Über Simon sagt er gegen Ende des Buches: Simon scheint nie jemanden zu brauchen. Er wirkt, als würde er sich überall amüsieren, egal wo er ist. Er gibt sich nie Mühe, Eindruck zu schinden. Ein neues Rennrad ist ihm piepschnurzegal (S. 71). In den Sommerferien bleiben alle zu Hause. Zu Hause, das ist ein Dorf, in dem nie etwas passiert. Die Sehnsucht nach „echten Dingen“ bestimmt Robbies Leben. Er will Spannung, er will, dass etwas geschieht. Darum überzeugt er seine Freunde davon, dass sie zusammen mit ihm nachts auf den Friedhof gehen, um ein Grab auszuheben. Die Stimmung ist unheimlich, es riecht nach Erde und der große Steinengel mit den eingeklappten Flügeln macht einen sehr echten Eindruck. Japos muss graben. Sie finden einen braunen Schädel mit gelben Zähnen, den Robbie Gertrudis tauft (siehe Textprobe 2). Robbie ist ein magischer Denker. Oft glaubt er, dass alles eine Bedeutung hat, dass er zum Beispiel den Regen anhalten kann. Oder er hört Musik im Wind oder im Regen, die er später aufschreiben wird (natürlich mit dem Ziel, berühmt zu werden, Robbie sehnt sich nämlich außer nach „echten“ Dingen auch nach Anerkennung, er will jemand sein). Langsam zeigt sich, dass bei Robbie zu Hause oft eine unangenehme Stimmung herrscht. Sein Bruder Laurens schikaniert ihn ungefähr so, wie Robbie seine Freunde schikaniert, seine Mutter fühlt sich von der Familie ausgenutzt und der Vater versucht, den Hausfrieden zu bewahren und sich anzupassen. Bei Robbie zu Hause passieren keine furchtbaren Dinge, aber man kann seine Familie auch nicht als so richtig warm und liebevoll bezeichnen. Schließlich geht Robbie mit seinen Späßen auf Kosten der anderen Jungen so weit, dass sie sich zurückziehen. Robbie verbringt den Abend auf einer Fete von Freunden seiner großen Schwester Esther. Dort hat er ein gutes und ehrliches Gespräch (vielleicht zum ersten Mal) mit einem Jungen namens Thomas, der ihm echte Fragen stellt und nicht übers Wetter, das Essen oder andere unwichtige Sachen redet. Thomas fasst Robbies Lage prägnant zusammen:
„Darum also bist du jetzt hier“, sagt er schließlich.
„Warum?“, frage ich.
„Na ja“, sagt Thomas, „wie ich das so höre, hast du Krach mit deinen Freunden. Sonst wärst du nicht hergekommen, schätze ich mal.“ Ich will etwas antworten. „Blödsinn!“, will ich sagen. „Das sind überhaupt nicht meine Freunde.“
Aber ich sage nichts (S. 62). Letztendlich drehen sich die Rollen ein wenig um und spricht Japos Robbie mit „Tier“ an und macht sich über ihn lustig. Es gelingt Robbie, sich Simon wieder zu nähern und es wird klar, dass die beiden Jungen eine echte Freundschaft verbindet. Kommentar Ein spannender und besondererMini-Entwicklungsroman, der zudem ausgezeichnet geschrieben ist. Robbie ist eine sehr gelungene Hauptfigur, die Daan Remmerts de Vries sehr scharfsinnig und glaubwürdig beschreibt. Robbie ist nicht so richtig sympathisch und das ist sehr erfrischend und interessant, meistens herrschen in Kinderbüchern doch die Sympathieträger vor, was die Identifikation einfach macht. Dass es dem Autor gelungen ist, mit einer eher unsympathischen Hauptfigur dennoch Spannung und letztendlich auch Sympathie zu erzeugen, betrachte ich als Zeichen seines Könnens, das mit jedem Buch sichtbarer wird. Godje wurde mit dem „Goldenen Griffel“ ausgezeichnet.
T E X T P R O B E N
1.
In unserem Dorf stehen lauter neue Häuser. Die Häuser sind nicht schön und nicht hässlich. Man kann eigentlich nichts über sie sagen. Sogar die Gärten sehen sich ganz ähnlich. Und die Straßen auch. Dadurch ist es, als wäre alles nicht echt. Als würde man in einem Computerspiel wohnen. Alle haben ein Auto. Alle parken ihr Auto direkt vor dem Garten. Manchmal stoßen zwei Autos zusammen. Dann steigen die Fahrer aus und fangen an zu schreien. Dann ist das Computerspiel kurz vorbei. Das einzig Schöne ist etwas, das glaube ich schon da war, bevor das Dorf gebaut wurde: die Vliet. Das ist ein Fluss. Und die Wiesen um den Fluss herum sind auch schön, wenn man sich die Zeit nimmt, hinzusehen. Die Wiesen und der Fluss, die sind echt (S.7).
2.
Klaver und Bachmann und Japos und Simon, die schauen, als sähen sie einen Geist. Wenn andere Leute Angst haben, habe ich weniger. Ich denke dann: Irgend jemand muss hier doch sagen, wo‘s lang geht. Ich lese, was auf dem Stein steht. „Gertrudis Boogaards“, sage ich. „Das ist also Gertrudis.“ Klavis lacht, ganz nervös und komisch. „Vielleicht“, sage ich, „hat Gertrudis ja Lust auf eine Runde Fußball.“ Ich habe noch immer Angst. Trotzdem mache ich Witze. So bin ich eben. In der Nähe des Grabes liegt eine Plastiktüte. Die hebe ich auf, und mit den Händen in der Tüte umfasse ich den Schädel. „Ihr müsst sie küssen“, sage ich. Simon sieht mich an als würde er nicht verstehen, was ich sage. „Küssen!“, sage ich. „Sonst bringt es Unglück.“ „Du zuerst“, sagt Bachmann. Ich gebe dem Schädel einen Kuss. Ich spüre den Sand an den Lippen. „Okay“, sage ich. „Jetzt du, Japos.“ Japos sieht mich an, als sei er verrückt geworden. Ich halte ihm den Schädel vors Gesicht. „Los, Tier! Sonst schließen wir dich in dem Grab ein.“ Er gibt dem Schädel einen flüchtigen Kuss. „Ooooo“, rufe ich mit hoher Stimme. „Das war aber schön!“ „Gertrudis!“, sage ich mit meiner normalen Stimme. „Gertrudis, du kannst sprechen?“ „Ja, Robbie, ich wurde wach geküsst!“ „Sehr geehrte Gemeinde!“, sage ich. „Betrachtet das Wunder! Fünf Jungen unter Leitung von Robbie Nathan haben eine Leiche gefunden. Und jetzt zeigt sich, dass die Leiche sprechen kann!“ Ich mache öfter solche Sachen. Dann tue ich, als wäre ich ein Reporter. Das kann ich nämlich gut. Wenn ich Lust habe, bin ich ein großartiger Schauspieler. „Gertrudis“, frage ich, „wie ist es nun eigentlich, tot zu sein?“ „Och, das ist ziemlich ruhig.“ „Ja, logisch. Aber ist es nicht auch wahnsinnig langweilig?“ „Nein, gar nicht. Wir gehen jede Nacht auf die Rolle.“ „Was macht ihr dann?“ „Dann treiben wir es miteinander! Hier liegen mehrere Freunde von mir.“ „Aber wie soll ich mir das vorstellen mit diesen Freunden? Sind deren Pimmel denn nicht abgefault?“ Simon und Bachman und Klaver fangen an zu lachen. Dann hören wir ein Geräusch.
Von irgendwoher erklingt ein HÜSTELN. Wir sind sofort still. Wir sind so still, wie wir noch nie gewesen sind. Wir lauschen, als würde unser Leben davon abhängen. Eine Weile hören wir nichts. Dann wieder: HÜSTELN. Noch näher als gerade.
Bachmann knipst seine Taschenlampe aus. Ich rufe: „Los, rennt!“ (S.10ff.)
3.
Aber, weißt du, manche Dinge musst du glauben. Wenn du nämlich gar nichts glaubst, wenn du nur glaubst, was du mit deinen eigenen Augen siehst, dann ist alles ... so kahl ... Du musst einfach etwas glauben. Ganz bestimmt. Du musst eben selbst rausfinden, was das ist.
Ich ... ich höre manchmal Musik. Musik im Wind oder im Regen. Die Musik ist für mich. Die Musik besteht aus Geigen und Trommeln und Trompeten. Später werde ich die Musik vielleicht aufschreiben. Dann lasse ich sie von einem Orchester spielen. Dann werden alle staunen. Dann werde ich berühmt. „Woher?“, werden alle fragen, „woher hat er die Musik nur?“ „Vom Wind“, werde ich sagen. „Und vom Regen.“ Und die meisten Menschen werden lachen. Sie werden mir nicht glauben. Sie werden sagen: „Unglaublich, dass du solche Musik erfinden kannst.“
Nur ich werde dann wissen, dass die Musik immer schon da war.
Eben weil es immer Musik gibt, wenn du nur hinhörst (S. 85 bis Ende).